Wenn Plastikdirndl und Lederhosenshirt auf bairische Tradition und Heimatgefühl treffen

05 September 2014
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Die Trachtition

Es kommt der Tag, zum Beispiel, wenn man den 29. verregneten Biergartenbesuch absolviert, da mag man sich mit der ständigen globalen Katastrophengaudi gar nicht mehr beschäftigen. Vor allem, wenn man dicht gedrängt unter einem sogenannten „Regenschutz“ zusammenhockt, trotzdem nass wird, das Bier verwässert und jemand sagt: „Jetzt marschiert er wieder, der Russe! Als ob wir nicht genug mit dem Neger zu tun hätten, den wir dauernd füttern müssen.“ Ein anderer sagt dann: „Genau! Als ob es nicht langen tät, dass wir für dem Russen seine #DDR zahlen dürfen!“

Daraufhin wedelt ein dritter mit einer Zeitung (irgendeiner, sie sind ja alle gleich, bis auf die taz oder Konkret), die etwas von einem #Russlandkrieg oder Krieg gegen Russland oder Krieg von Russland aus und über #Israel titelt. Die deutsche Journaille unternimmt nichts lieber dieser Tage, als die „Deutschen“ auf einen Krieg einzuschreiben.

Dann sitzt man da, seufzt und überlegt, ob man mit letzter Kraft widersprechen, etwas richtig stellen soll, entscheidet sich aber dagegen und beschließt, dass man sich die Zeit, bis man eine Brezn holen kann, ohne mit ihr im Regen zu einer Salzteigsäule zu verschmelzen, vertreibt, indem man ein bisserl nachdenkt. Kann nicht schaden, denkt man, vielleicht kann man so das Defizit der Mitmenschen ein wenig ausgleichen. Was natürlich eine irrtümliche Hoffnung ist, ansonsten hätten nämlich Luksenburg, Einstein und Kollegen längst die Welt retten können. Haben sie aber nicht, weil die Masse dumm ist, die Masse siegt, ergo siegt die Dummheit. Das ist auf unserem Planeten anscheinend ein Naturgesetz – oder auch: Tradition.eb762d593afb461190fe2496de7c1c93

Irrtümer gibt es viele. Und sie werden jeden Tag von Mund zu Mund weiter propagiert (ja, genau wie Herpes). Besonders hinsichtlich alltäglicher Phrasen wie: „Jede Braut ist schön.“ Schade, aber so einfach ist das nicht. Sonst müsste frau ja einfach immer als Braut herumlaufen. Außerdem ist dieser Irrtum auch, ähäm, sexistisch. Und zwar traditionell: Frauen müssen schön sein, Männer dürfen schön sein.

Das gilt ebenso für die #Tracht. Nicht eine jede, die mit dem Schuhlöffel in ihr #Dirndl hineinsteigt, schaut gut aus. Und nicht ein jeder, der sich das bajuwarische Faschingsleder überzieht, hat automatisch stramme Waden oder ein scharfes Gesäß. Ich rede jetzt noch gar nicht über die Plastik-Dirndl für 19 Euro oder Lederhosen-Shirts, letztere Monstrosität wurde bei einem Junggesellenabschied in München gesehen. Bei diesen Abschieden zieht sich neuerdings der jeweilige Mensch, der sich aus dem Single-Markt abholen hat lassen, ebenfalls gern ein Dirndl an. Und zwar beiderlei Geschlechter – und beide sehen meist gleich schlimm aus. Weniger wie jemand, der in den sicheren Hafen der Ehe einläuft, sondern mehr wie ein gerupftes, panisches Huhn, das Angst hat, nicht mehr in seinen Stall zurückzufinden, weswegen es der Fuchs doch noch erwischt.

Diese Abschiede haben angeblich auch eine Tradition. Allerdings keine spezielle, da man das tut, was man schon seit Jahren tut: saufen, Schmarren machen und (wenn's gut läuft) schnackseln.

Aber zurück zur Tracht und Tradition. Das ist eh aktuell, jetzt, wo in jedem Kuhdorf schon eine angebliche Dult stattgefunden hat, bei der das weiß-blaue Erwachsenenkarussell eh am wichtigsten ist, und das #Oktoberfest, das wohl größte Entmenschungs- und Zwangspaarungserlebnis nebst dem Kölner Karneval, bald stattfindet. Hinsichtlich der #Wiesn (und auch allen anderen Bierfesten) liegt die innere Zerrissenheit der Gesellschaft zwischen den neo-populären Themen Tradition und Tracht und der inneren Verkommenheit gleich auf.

Die Tracht hat allerdings gar keine solche Tradition, dass sie jeder „früher“ zu solchen Anlässen angelegt hätte. „Früher“ haben sich nämlich nicht alle Bayern eine Tracht leisten können – und der unbayrische Andrang hielt sich naturgemäß in Grenzen. Weil dereinst eben niemand auf die Idee verfallen ist, Plastik-Dirndl zu verkaufen. Die fliegen also schon mal aus dem großen Traditionskarussell hinaus. Dafür konnten früher wahrscheinlich noch alle Wiesnbesucher richtig „Maß“ sagen, statt „noch ein Maaaaas bitte“. Und vergessen wir auch nicht, dass im letzten Jahrhundert das Tragen von Tracht und überhaupt alles Bayrische eher verpönt, ja: altbacken gewesen ist. Dann aber kam dieser pseudo-folkloristische Landhausstil daher, die Leute haben beschriftete Kartoffelsäcke angezogen und wenig später Leopardendirndl sowie türkisfarbene Lederhosen.

Lederhosen, Techno-Schlager-Volksmusik, Dahoam is dahoam, Dekolletees, aus denen einem die Brüste ins Gesicht hüpfen: Das alles hat Hochkonjunktur, das alles soll Bayern sein. Man volkstümelt sich durch den Alltag, mit dem Gefühl, eine Legitimation für Fremdenhass sowie Engstirnigkeit erhalten zu haben. Denn: „Die anderen“ lieben uns ja so, sonst würden sie nicht dauern kommen.

Im Übrigen sind „die anderen“ ebenso von dieser Verkasperung betroffen. Der Ostdeutsche muss Spreewaldgurken fressen, der Berliner muss unfreundlich in einen Döner beißen, der Allgäuer muss kauend neben der Kuh stehen (wobei alle beide die gleiche Mundbewegung machen), der Kölner muss eben wochenlang besoffen vor den Dom schiffen, jeder Friese („Was? Nord- oder Ost-? Is doch Wurscht, Otto!“) ist ein blonder Witzzwieback, der Hesse muss, während er Wein in sich hineinschüttet, Aschenbecher klauen, der Franke darf gar nix sagen und der Schwabe kann den Mund nicht auftun, ohne dass alles lacht, etc.

Dieses abartige, karikierte Getümel soll wahrscheinlich eine Art Heimatgefühl vermitteln. Dabei führt es nur dazu, dass die Tümler eigentümlich und fremdenfeindlich und im Gegenzug von den „Fremden“ belächelt bis verlacht werden. Dann werfen die „Fremden“ alles, was sie offensichtlich als Tradition zu erkennen glauben, in einen Topf, rühren einmal um, und heraus kommt zum Beispiel „der Bayer“, welcher aussieht wie ein Transvestit, der völlig betrunken den Franz J. Strauß parodiert. Wir sollen „Dahoam is dahoam“ sein. Oder zumindest spielen. Gemütlichkeit, Gamsbart und Grant, das sind wir und so machen wir unser Bier. Gott... ja, aber bitte nur: mit dir, du Land der Trachtler. Überhaupt brauchen wir wieder den König.

Der reale Jungbayer steht hingegen schneidig im P1, wo er sich unbenommen auf seine Disco-Haferlschuhe übergibt, damit hernach die Ledersitze von Papas BMW sauber bleiben, weil er sonst traditionell eine saubere eingeschenkt bekommt. Freilich in Form von Autoentzug oder Taschengeldsperre. Ritalin fällt als Erziehungsmittel weg, da die Schrazen dann bereits so alt sind, dass sie Ritalin zum Studieren nutzen.

In Wirklichkeit sind die Bierfeste also zu einem Trachtenfasching verkommen, der die Stammtischphilosophen dazu nötigt, auf jenen Stammtisch zu dreschen sowie über die Lederhosentouristen zu granteln. Mehr geschieht selten, da man die Touristen braucht. Ganz traditionell. Außerdem: Wenn einer ein Geld dabei hat, dann ist er so schlimm nicht. Was man am Russen sieht, der unter anderem am Starnberger See sehr geschätzt wird, wenn er in seiner teuren Villa hockt, von wo aus er die Gemeinde durch Geldausgeben unterstützt.

Das meiste, was wir unter dem Titel „Tradition“ begehen, ist also, was man als Tradition verkauft. Darum geht es nämlich. Warum sollte denn einem Unternehmen wie C&A oder InBev (welches das Massenbier zum Plastikdekolletee verkauft) eine bayrische Tradition am Herzen liegen? Und wegen diesem ganzen Circus gerät man leicht in eine Zwickmühle, wenn man eigentlich gern ein Dirndl anziehen würde, allerdings eben mit einem anderen Gefühl als: „Ich will die Schönste vom Autoscooter sein.“

Eine wirklich Tradition, auch in Bayern, ist, dass man sich nicht alles bieten und befehlen lässt. Die ist aber leider verschütt gegangen, unter Schnupftabak und Schuhbeckknödel. Deswegen werde ich wohl noch länger im Biergartenregen sitzen, um mich herum lauter Traditionsexperten, die sich von einer Zeitung und einer von der Leyen kriegsgeil hetzen lassen.

Eine schöne, traditionelle Episode aus dem Trachtenfasching kann ich im übrigen auch erzählen: Es war einst zu Straubing, während des Gäubodenfestes. Diesem „traditionsreichen“, „gemütlichen“ Bierfest. Auf einem Parkplatz kam ein neuer BMW zum Stehen, dem ein junger Mann entstieg, nicht mehr ganz sicher, um flugs zu einem Festzelt zu stiefeln (keine Angst: Die Gummistiefel hatte er davor ab-, dafür freilich das Hirschleder angelegt). Aus der Beifahrertür wallte seine bedirndelte Begleitung heraus, hielt sich am Kofferraum fest und plärrte: „Aber, ich liebe dich doch!“ Er drehte sich um und plärrte: „Und ich hab dir doch vorher schon gesagt, dass du dei Fotz'n halten sollst.“

Ach ja, die Traditionen in Bayern. Darauf eine Maß.

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Andrea Limmer

Freie Journalistin

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